Man muss die deutsche Weinbau-Geographie nicht unbedingt kennen, um die ersten 100 Punkte zu würdigen, die Robert Parkers Wine Advocate jemals in den Rheingau vergab. Dass sie nach Lorch in den äußersten Norden des Riesling-Anbaugebiets gingen, ist für Kenner bemerkenswert. Aber selbst der Laie wird anerkennend nicken, wenn er erfährt, dass die Winzerin gerade neun Jahrgänge für diesen Erfolg brauchte. Eva Fricke ist als Geisenheim-Absolventin (die Weinbau-Hochschule des deutschen Sprachraums) zwar top ausgebildet. Doch zwischen ehrwürdigen Schlossweingütern und dem uralten Kloster Eberbach war sie lange einfach „die Neue“. Noch dazu, wo die Newcomerin aus dem hohen Norden Deutschlands stammte und sich 2011 auch noch in Lorch etablierte.
Denn diese Flächen waren „eher unbegehrt“, wie es Fricke selbst euphemistisch formuliert. „Warum gehst du denn nach Lorch, da ist es doch steil, was willst du da“, wunderten sich einige Winzerkollegen gar. Doch die heute 43-jährige Fricke (kl. Bild) wusste schon damals, dass sie Riesling von Schieferböden und alten Reben ernten wollte. Mittlerweile sind es 17 Hektar und 98% davon mit der weißen Paradesorte, die „Mrs. 100 points“ unter ihren Fittichen hat.
Wie immer zeigt bereits der Ortswein – in diesem Falle der „Kiedrich“ 2019 – die Handschrift der Riesling-Macherin, die ohne Pestizide (und seit 2017 biodynamisch) arbeitet. Zunächst sind es viel Birnen – grüne und braune – im Duftbild, das zart auch die Marille aufblitzen lässt. Ein Wein, dem man in jedem Fall Lebendigkeit attestieren muss. Die mineralische Grundierung deutet sich in der Nase in einem rauchigen Ton schon an; sie zieht sich am Gaumen dann von Anfang bis Ende durch den „Kiedrich“. Bei den Frucht-Akzenten zeigt er ein Potpourri aus Zitrusfrüchten und dabei stets auch jeweiligen Zesten: Saftig ist die Pink Grapefruit, schön herb die Limette, die auch am längsten nachklingt. Etwas Nektarine gesellt sich noch dazu, das Finale fällt aber trocken und animierend mit einem zarten „Bitterl“ aus. Erfrischend und mit Nachtrink-Potential wie ein „Bitter Lemon“ ohne Süße!
Für die Winzerin verbindet die heimatliche Nordsee-Küste auch aromatisch einiges mit den Weinen, die sie heute in Hessen erzeugt: Kühle und die Salzigkeit, die von Schiefer und Quarzit der alten Rebanlagen stammen, sind die schmeckbare Klammer. Das wird mit der noch klarer umrissenen Herkunft der Lagenweine noch deutlicher. Vier Stück gibt es davon, der höchstbewertete ist die „Lorcher Krone“. Von hier stammt die von Parker geadelte Trockenbeeren-Auslese des verrückt heißen, aber mengenmäßig kleinen Jahrs 2019. Kritiker-Kollege James Suckling gab aber auch der trockenen Variante der „Lorcher Krone“ 100 Punkte.
Für Österreicher ist aber natürlich der Lagen-Riesling mit dem Milchkaffee-Namen jener, der als erster gekostet werden muss. Wie der Kaffee-Mix verbindet auch die „Mélange“ 2019 zwei Elemente: Die knackfrische Zitrusaromatik und die typischeren Riesling-Noten von Steinobst. Wobei es im Duft die Agrumen sind, die sich vordrängen, erst danach gibt es Marille und kühlen Pfirsich. Denn im Grunde ist es ein sehr frischer Wein, den Eva Fricke hier vorlegt, und einer, den man fast immer öffnen kann. Denn er bringt vieles mit, changiert immer wieder zwischen den Noten, die er in seinem Füllhorn birgt. Da wäre ein durchaus fruchtsüßer Antrunk, den sich in Österreich leider kaum mehr jemand traut beim Riesling.
Wenn dann aber die Aromatik und leichte Bittere von Grapefruit als Gegengewicht auftritt, passen ein paar Gramm Restzucker schon. Denn noch markanter als die leichte Fruchtsüße zeigt sich der Gerbstoff, sobald er im Finish ordentlich aufdreht. Er liefert quasi die Zesten als herbe Coda zu den Zitrusaromen nach. Doch keine Angst, das ist kein säuriger Wein, viel mehr kommt am Gaumen Ananas als weitere Frucht hinzu, die man schmeckt. Sie repräsentiert aber den frischen Typus Tropenfrucht und passt insofern gut ins Gesamtbild einer „Mélange“, die so gar nichts vom weichen, milchigen Kaffee-Mix hat.
Aus dem kühleren Jahrgang 2018 stammt dann der „Lorcher Schlossberg“, ein weiterer Lagen-Riesling. Der mit 11,5% Alkohol einmal mehr zeigt, wieviel Geschmack ein „leichter“ Weißwein haben kann. Rauchig. In dieser lapidaren Kraft eines einzelnen Begriffs lässt sich der erste Eindruck zusammenfassen. Fast wie angeröstetes Rindfleisch, wenn der Grill noch zischt, duftet es aus dem Glas. Mango-Chutney und Apfel-Schlankerl bilden eine Art würziges „missing link“, das dann zur klaren Riesling-Frucht im Duft überleitet. Auch am Gaumen ist das keinesweg ein üppiger Wein. Aber einer mit viel Ausdruck. Ananas ist etwa eine markante Frucht, aber in diesem Fall tritt eine betont frische Version auf. Auch Grapefruit wird am Schlossberg in zwei Akten gegeben. Zunächst als säurige, saftige Frucht, dann im Nachhall als herbe Zeste, die wunderbar nachfedert wie der Geschmack von Aranzini.
Wenn man nach zehn Tagen die angebrochene Flasche weitertrinkt, wirkt zwar alles softer, die Pfirsich-Frucht steht dann aber sogar klarer da. Die feine Mineralik begleitet sie weiterhin – und unterstreicht die kühle Art, die man mittlerweile schon als Signatur der Rheingauer Winzerin ansprechen darf. Auch einen zweiten Wein unterzogen wir dem Langzeit-Test, den nur wirklich „lebendige“ Weine bestehen.
Der „Lorchhäuser Seligmacher“ hat aber nicht nur einen schönen Namen zu bieten; der Riesling des Jahrgangs 2018 knallt einem die Zitrusnoten um die Nase, zarter Rauch vom Schieferboden folgt umgehend, ehe die junge Marille und etwas Holunderblüten die Nase erreichen. Schließt man die Augen, entsteht aus säuriger Kühle und Steinfrucht ein Marillenknödel mit Topfenteig vor dem geistigen Auge.
Fast frech ist Säure bei diesem Riesling auch am Gaumen. Maracuja meint man zu schmecken, aber auch herbe Noten bringt dieser Wein mit. Sie legen im Finish zu, eine Mischung aus Lorbeer und Bergamotte beschließt den „Seligmacher“ dann. Wenn man mit zehn Tagen Abstand den 2018er erneut einschenkt, wirkt die Pikanz fast wie Senffrüchte. Sie bleibt als belebender Zug neben der Marille lange haften.
Warum hierzulande nicht mehr deutscher Riesling getrunken wird, fragt man sich bei diesem gerade einmal 11% starken Rheingauer erneut ungläubig. Irgendwie scheinen vor allem die österreichischen Winzer die Weißen aus dem Nachbarland zu schätzen – wie man es bisweilen auch von einem „musicians‘ musician“ behauptet. Also jenen Musikern, die zwar keinen Welterfolg haben, aber die Auskenner verzücken. Und in diesem Sinne kann man Eva Fricke attestieren, dass sie groß aufspielt. Schon vor dem 100 Punkte-Jahrgang 2019; dessen Lagenweine nun ohnehin praktisch ausverkauft sind.
Bezugsquelle:
Eva Fricke, Riesling „Kiedrich“ 2019 kostet EUR 19, „Mélange“ 2019 ist um EUR 25 zu haben, der „Lorchhäuser Seligmacher“ 2018 um EUR 33, alle im Webshop des Weinguts, www.evafricke.com