Mit Gerhard Kracher die Weine seiner Jahrgangskollektion an Trockenbeerenauslesen (TBA) zu verkosten, ist ein Vergnügen. Wie der Leiter eines Experiments vergleicht und analysiert er immer wieder. Nach wie vielen Wochen verliert eine geöffnete TBA ihre Aromen? Solche Dinge will der 32-jährige Süßweinmeister einfach wissen. Er versteht es aber auch, nüchterne chemische Fakten für Laien nachvollziehbar zu machen. Dafür eignet sich der Jahrgang 2010 besonders, auch wenn er nur 50% der durchschnittlichen Ernte brachte. Ein langer, warmer Herbst mit kühlen Nächten entschädigte für vieles und stattete die überreifen Trauben mit einer hohen Säure aus. Beim Traminer waren es etwa satte 2 Promille mehr gegenüber dem Jahrgang 2009, aber auch die anderen zehn Mitglieder der Kollektion profitierten davon.
Der sentimentale Favorit des Hausherrn, der mittlerweile 2,8 Hektar umfassende Rosenmuskateller, eröffnete den Reigen und zeigte neben der sortentypischen Rosenölnote und Malven („kurz gezogener Früchtetee“, so der Winzer) nach einer guten Stunde seine herbere Seite. Die Tannine wurden deutlicher, die zuvor zarte Rosenseife im Duft potenzierte sich, der Honigton und die röstigen Aromen („gebrannte Mandeln“) blieben erhalten.
Ebenfalls aus der Barrique-Linie „Nouvelle Vague“ stammt die Chardonnay-TBA, für die ebenfalls Zeit mitzubringen ist. Denn die erste Bratapfel-Note weicht später einer rauchigen Note, wie man sie von Islay-Whiskies kennt. Selbst der Gaumeneindruck, zuvor von einem frischen Limetten-Akkord gekrönt, verändert sich in eine Richtung, die irgendwo zwischen bretonischen Salzkaramellen und Stollwerk angesiedelt ist. Dazu kommt ein 30 Minuten zuvor völlig abwesender Veilchen-Duft. Die Prognose, dass es 2010 ein Jahrgang „für den Keller“, kann man getrost jetzt schon stellen.
Für mich die ungewöhnlichste Stilistik bringt aber die Scheurebe mit: Eine TBA, die mit 297,4 Gramm Zucker aufwartet, allerdings herbe Zitrusnoten aus dem Glas steigen lässt, wie ein frisch geöffnetes Bitter Lemon. Die 10,2 Gramm Säure machen es möglich und zeigen wieder einmal, dass der einzelne Analysewert Zucker wenig aussagt, wenn die Gesamtbalance stimmt. Ein saftiger süß-saurer Akzent, konkret die rosa Grapefruit, findet sich dann auch am Gaumen, dazu kommen Marillen-Anklänge und das Illmitz-typische salzige Finish. Bereits in seiner Jugend wird dieser Wein minütlich mehr, was seine Aromenvielfalt betrifft. Ein grandioser Süßwein, von dem man sich – angesichts der halbierten Erntemenge – etwas sichern sollte.
Bezugsquelle: Weinlaubenhof Kracher, TBA Nr. 1 Rosenmuskateller, EUR 30,99, TBA Nr. 4 Chardonnay „Nouvelle Vague“, EUR 25,99 und TBA Nr. 9 Scheurebe „Zwischen den Seen“ 2010, EUR 33,99 in Subskription bei Wein&Co., www.weinco.at