Heuer fiel sie tatsächlich in die Zeit der mündlichen Matura, die „Reifeprüfung“, die Weinsammler Chris Brunthaler, gemeinsam mit Bordeaux-Freunden alljährlich ansetzt. Auf dem Prüfstand stehen dabei zunächst die Fächer „Verschlussologie und Kork-Kunde“, „Mnemotechnik“ und „Rhetorik“. Denn zunächst einmal soll kein Fehler die blind eingeschenkten Weine der Jahrgänge 1961-1998 beeinträchtigen, dann sollte man seine Kosterfahrungen so gespeichert haben, dass man zumindest linkes und rechtes Ufer der Gironde bzw. Garonne unterscheiden kann. Und wenn das auch nichts mehr hilft, muss man wortgewaltig genug sein, seinen Irrtum zu verteidigen („vielleicht nicht die beste Flasche“, „ich kenne Lafite anders“ usw.). Die Ironie im Text paßt schon, denn eine wissenschaftlich-ernste Runde wurde es auch heuer nicht; Stichworte wie „Korkloch“, „Nusswurm“ und „Supergeil“ – allesamt private Schmähs der Kenner – lockerten die Verkostung der 16 Weine ebenso auf wie die Küche des Skyline.
Doch zur Sache, Beschreibungen statt Befindlichkeiten sind gefragt. Beginnen wir bei den ausgezeichneten Erfolgen der Reifeprüfung: Zunächst recht stahlig im Geruch, mit einer satten Brombeer-Note, die von Steinpilz und – nach einiger Zeit im Glas – Graphit abgelöst wurde, startete der 1961er Château Cos d’Estournel. Der älteste Wein beeindruckte insofern am meisten, als er noch unter völlig anderen kellertechnischen Möglichkeiten erzeugt wurde als, sagen wir: die Neuziger-Jahrgänge. 53 Jahre haben dem seinerzeit sehr tannin-lastigen Saint-Éstèphe nicht viel anhaben können; nach wie vor kommt ein seidiges Tannin auf den Gaumen, das die erste Basis seiner Eleganz zimmert, das Gerüst quasi. Blaubeeren und eine balancierte Fruchtigkeit, die weder ins Süße abgleitet, noch einen ratlos läßt, was hier so schmeckt, liefert den Überbau. Die Filigranität dieses herausragenden Jahrgangs bliebt in Erinnerung, wieder einmal zeigt sich die kräftige Faust in einem Seidenhandschuh, so verpackt das nur Frankreich – und auch nicht oft.
Während nicht die intensive Dille-Note in seinem Geruch, sondern die nicht so ganz überzeugende Länge den 1969er Lafite-Rothschild trotz seiner saftig-dunkelbeerigen Aromatik ein paar Punkte im internen Ranking kostete, stand der eigenwillige Château Gloria des Folgejahrgangs – trotz einer merklichen Bräunung fein da. In der Nase kam vor allem Zichorie und Wurzelwerk durch, doch gerade diese erdigen Noten machten ihn auch im Mund zum Erlebnis. Denn aus den ganz zart bitteren, trockenen Noten schälte sich gegen Ende eine deutliche Würze, weißer Pfeffer trug den anfangs in Farbe und duft ein wenig angezählt wirkenden 1970er in ein extrem langes Finale.
Von den Jüngeren der alten Weine zeigte Smith-Haut-Lafite 1995 auf. Auch hier begann ein brauner Rand die Stirnen in Falten zu ziehen, doch entwickelte der Wein mit der Champignon und Kerbel-Nase seine Kraft aus einer alkoholisch wirkenden Art, die sich letztlich „nur“ als Amarena-Marzipan herausstellte, und einer geil zu nennenden röstigen Note, die man am ehesten mit Maroni – und zwar der Schale, nicht der Frucht – bezeichnet.
Diese bittere Note begegnete der Runde im Château Talbot des gleichen Jahrgangs erneut, hier aber etwas intensiver und damit polarisierender. In der Nase verriet neben Sojasauce der herbe-süße Duft schwarzer eingelegter Nüsse, dass hier ein würziger Typ im Glas tanzt; am Gaumen stellte sich der dann auch mit Namen vor („Enchanté, Cabernet!“), denn die grüne Würze, mehr an Nusslaub gemahnend, verblüffte einerseits mit ihrer Jugendlichkeit, war aber momentan zu herb, um ihn zum Vergnügen zu machen.
Von den vier Jahrgängen Lynch-Bages (1970, 1979, 1982 und 1983) gefiel der 82er mit seinem Parfum aus Maulbeeren, Graphit und schwarzem Pfeffer am besten. Jugendliche Kraft vom ersten Schluck an, dazu eine pfeffrige Würze, die am Ende in einer überraschend süßen Erdbeer-Frucht kulminierte, läßt hier auf die nächsten Jahre hoffen. Mögen wir uns wiedersehen – in Wimpassing oder wo auch immer!
Bezugsquelle:
Naturgemäß sind abseits der großen Auktionen nur mehr Einzelflaschen im Handel zu finden; vom Jahrgang 1995 ist etwa Château Talbot um 71,40 EUR bei Unger-Weine erhältlich, www.ungerweine.com
Die beachtliche Flasche des 1961er Cos d’Estournel führt www.evinite.de auf seiner Homepage um EUR 856.