Man muss die letzten zwei, drei Jahre in einem Erdloch verbracht haben, wenn man noch nichts von alkoholfreien Alternativen zu Wein und Spirituosen gehört hat. Wobei: Richtiger Verlust wäre es auch keiner. Entweder wird nachgebaut, was auf natürlichem Wege nicht entstehen kann (ohne Gärung gibt’s kein schmackhaften Gärnebenprodukte!). Oder man greift mit einer biochemischen Kastration ein, indem man Alkohol entzieht. Was herauskommt, ist dann ein Phantom, eine Schwundstufe von Wein, um nur bei dieser Kategorie zu bleiben. Denn der Wein ist auch die Domäne von Christof Winkler-Hermaden, der das gleichnamige Weingut im Vulkanland führt. Vor allem aber ist er ein ausgebildeter Mikrobiologe, der es gar nicht erst mit dem Entalkoholisieren versuchte.
Sein Weg zu einem Ersatz ohne Alkohol ist komplexer und lag in der Fermentation. Das Ergebnis kann sich nicht mit Weinen messen, will es nicht und muss es vor allem nicht. Tertium datur! Den Ausschlag dafür, dass es Sein heute in vier Versionen gibt (Nummer 5 soll folgen), gab aber der Besuch von Sonja Grabner auf Schloss Kapfenstein. Sie besuchte Winkler-Hermaden, weil sie nach einem Fermentationsprofi für ihre eigene Idee suchte: Die Energiepunkte der alt-indischen Medizin, Yoga- und Ayurveda-Anhängern als „Chakren“ bekannt, sollten mit eigenen Getränken gestärkt werden. Wenn man also will: Das Getränk zu Nabel, Herz oder Solarplexus sollte entstehen. Der Winzer hörte sich die vorderasiatischen Lehren an und ging ans Werk. Denn seine eigenen Versuche mit Kefir oder Kombucha überzeugten Christof Winkler-Hermaden (kl. Bild) zu wenig. Da aber war nun ein anderer Ansatz.
Milchsäure-Vergärung wie beim Sauerkraut wurde die Basis, wobei eines außen vor blieb: „Essig-Geschmack wollte ich keinen“. Stattdessen griff man in Kapfenstein auf komplexe Zusammenstellungen von Früchten, Kräutern und Gemüse zurück, um die esoterisch verbrämten Rezepturen von Sein zu erstellen. „Im Schnitt arbeiten wir mit 15 Zutaten pro Sorten, natürlich in Bio-Qualität“. Zudem wird auch auf den Ernte-Zeitpunkt geachtet, die Zutaten sollten den höchsten Wirkstoffgehalt (das Sein-Duo nennt es auch „Energie“) besitzen.
Wir ewigen Skeptiker im Zeichen des Apostels Thomas halten uns aber schlicht an die Sensorik. Und staunten bei der ersten Verkostung der vier neuen Säfte über das Ergebnis. Macht man sich von den etwaigen Vergleichen frei, hat man hier in den besten Fällen eine neue Kategorie von Getränk im Glas: Vegan, zucker- und alkoholfrei und doch vollgepackt mit Geschmack zeigten sich die Favoriten dieses Quartetts, das wir gern zur Gänze trinkprotokollierten.
Das „Wurzel-Chakra“ alias Nummer 1 widmet sich als Körperteil dem Anus. Das schreibt man natürlich nicht auf die Flasche, aber Sonja Grabner erwähnt es bei ihrer Einführung in die vedische Physiognomie. Das getrübte Blutrot stellt den ersten Eindruck bei der Verkostung dar, ihm folgt ein intensiver Duft nach Weichseln und Roter Rübe. Doch das Ferment aus Kapfenstein hat noch mehr zu bieten. Mit etwas Zeit im Glas kommen Brombeeren zum Vorschein. Die Nase hat auch eine zart bittere Witterung aufgenommen. Sie wird am Gaumen eingelöst, wenn die zarten Balsamico-Noten von der Säure von Himbeeren mit einer fruchtigeren Gangart fortgeführt werden. Dann nämlich schmeckt man den herb-säurigen Ausdruck einer der Zutaten, die Christof Winkler-Hermaden preisgibt: Aroniabeere. Sie hat er neben Kürbis und Holunder für die Nummer 1 verwendet.
Nummer 2 widmet sich dem „Sakral-Chakra“ bzw. als Element dem Wasser. Hier wurde Marille und Jasmin am Weingut fermentiert. Das blickdichte Ananas-Gelb wird von einer nachgerade „waldigen“ Ader begleitet. Zirbe und geflämmter Rosmarin vergehen allerdings. Dann meldet sich in der Tat ein Steinobst-Duft, bei dem man an Marille denken kann. Aber erneut sind es die Kräuter, die sich vorwitzig ins Spiel bringen. Von der Konsistenz, die etwas leicht Cremiges hat, erinnert Nummer 2 an Molke. Doch da ist der Rosmarin vor! Er schmeckt vor, ehe die säurigeren Noten den Mittelteil bilden. Der Hall hat dann etwas von Knollensellerie und regt den Appetit an. Wenn jetzt wer sagen würde „Das schmeckt sogar nach „gesund““, könnten wir es ihm nicht verdenken.
Nummer 3 hingegen ist unsere klare Nummer 1. Nicht nur, weil die dem Feuer bzw. dem „Nabel“-Chakra gewidmete Abfüllung besser als Aperitif der Sein-Welt funktioniert hätte. Das Himbeer-Rot im Glas erinnert – gerade im Herbst – auch an „Schilchersturm“. Doch die Nase ortet andere Noten, die einen sofort zum Achtjährigen machen. Damals, als man Sauerampfer direkt von den Au-Wiesen genascht hatte. Diese Wiesen gibt es längst nicht mehr, dafür Wohneinheiten im Sechser-Kubus, den Geschmack zum Glück schon. Er paart sich mit einer kühlen Erdbeer-Note und auch Nessel-Aroma. Dazu kommen dank des Geruchs nach Feldgurken und Borretsch noch komplexe Bei-Noten.
Ähnlich vielschichtig, ohne eine pure Wiederholung des Duftbilds zu liefern, ist der Geschmack. Nummer 3 bringt Estragon, Paprika-Pikanz und wieder Sauerklee bzw. -ampfer in Stellung. Wäre da nicht auch ein Haucherl geriebener Ingwer, man könnte glatt schreiben, dass dieses Steirer-Ferment wie Campari ohne Süße schmeckt. Ein wunderbarer Auftakt-Schluck, der den „erwachsensten“, aber oft eindimensionalen, Geschmack Bitter mit einer eleganten Tiefgründigkeit verbindet!
Nummer 4 zeigt im Glas dann ein trübes Sonnengelb und die attraktiv-sommerliche Farbe nimmt auch eine der Duftnoten vorweg. Das flüssige „Herz“ riecht nach gelben Tomaten, Stangensellerie, Gurkenschale und auch Rosmarin ergänzen einen leicht herben, immer frischen Eindruck aus dem Gemüse-Beet. Die saftige Tomate findet sich im Geschmack dann auch wieder, diesmal aber salzig unterlegt. Die „grüne“ Seite wird von den klare ausgeprägten Kräuter-Noten (Kresse, Kerbel) neben der herben Gurkenschale vorgestellt. Die leichte Umami-Note macht aus dieser Sein-Variante die am deutlichsten für die Speisebegleitung geeignete Sorte.
Man denkt instinktiv an Sashimi von fetteren Fischen wie Heilbutt oder Lachs. Und es wundert uns nicht, wenn Sonja Grabner von den ersten Vorbestellungen aus der Top-Gastronomie berichtet. Denn dort sind die kühl im Wein gereichten Chakren-Drinks gut plaziert. Anders gesagt, ihr Wirten: Sein sollte man haben.
Bezugsquelle:
Sein, alle vier Sorten – Wurzel, Herz, Sakral und Nabel – sind um je EUR 13,- (0,75 Liter-Flasche) im Webshop bestellbar, www.sein-sein.at