Silvester 2020 dürfte einiges anders sein als sonst. Dass man sich den Sekt um Mitternacht verbieten lassen wird, darf man aber getrost bei den „alternativen Fakten“ abheften. Der Sprudel war immer da! Wobei das nicht ganz so stimmt. Erst seit knapp 200 Jahren gehört der prickelnde Wein auch in deutsch-sprachigen Landen auf die noble Tafel. Anno 1826 brachte Georg Christian Kessler den „nach Champagner-Art bereiteten moußirenden Wein“ erstmals nach Deutschland. Genauer gesagt, tat er das in der Fachwerk-Stadt Esslingen. Deren Reichtum fußte zwar schon im Mittelalter auf dem Weinbau, doch mit Kessler Sekt kehrte die Moderne im alten Lesehof bei der Dionys-Kirche ein.
Um ein Haar hätte der energische Monsieur Georges seine Tatkraft aber einer Weltmarke jenseits des Rheins geschenkt. Denn Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, besser bekannt als Veuve Clicquot, hatte den deutschen Mitarbeiter ihrer ererbten Kellerei schon als Nachfolger auserkoren. Warum daraus nichts wurde, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Doch für die Sekt-Kultur war es der Urknall! Denn der mit edlen weißen Etiketten versehene Schaumwein verkauft sich von Beginn weg prächtig: 140.000 Flaschen wurden im Todesjahr Kesslers (1842) in Esslingen gefüllt. Und auch die Nachfolger verstanden sich auf Versektung und Vermarktung gleichermaßen, wie die Trinkprotokoll-Spurensuche in Esslingens Kellerwelt ergab: Ein „Automobil-Sect“ muss einem erst einmal einfallen!
Und auch die beiden lustigen Kellner-Buben, die als „Kessler-Piccolos“ das Firmenportal zieren, gibt es seit 1904. Doch von deutschen Werbeikonen allein kann man nicht leben. Die Kellerei wollte irgendwann alle Kunden prickelnd beglücken. Stand beim Discounter und wollte auch Premium-Qualität teuer verkaufen. Das scheiterte. Doch mittlerweile kehrt man unter Christopher Baur zu den alten Tugenden zurück. Aus 30 Produkten machte der Esslinger sofort einmal nur fünf. Und erst jetzt baut man das Portfolio wieder aus.
Der „Georges“ etwa ist ein fünf Jahre auf der Hefe gelagerter Sekt, der den Gründer ehrt. Die Grande Réserve aus 74% Chardonnay und 26% Pinot Noir stammt aus dem Jahrgang 2013 und duftet nach Mango, Dörrmarillen und einem Birnen-Auflauf. Brotige Noten sind bei einem Oenotheque-Schaumwein wie diesem natürlich vorhanden. Überraschend ist aber die feine und engmaschige Art, die man in diesem heißen Jahrgang erhalten konnte.
Die Finesse des „Georges“ zeigt sich in seinen Zitrusnoten, die mit einem Anflug Ananas auch ein wenig tropischen Akzent tragen. Aber eben auch einen säurig-frischen und keinen breiten wie viele Chardonnay-dominierte Assemblagen. Weinig – und da kommt der Blauburgunder durch – wird es dann im Finale, wenn der Gerbstoff des Pinots für einen herb-animierenden Ausklang sorgt. Der 60 Monate gereifte Kessler-Erstling mit dem goldenen Etikett, den Christopher Baur in der historischen Trink-Stube entkorkt, ist unbezweifelbar großes Kino. Aber auch noch jung.
Doch das soll uns nicht bekümmern. Denn es gibt noch genug zu kosten im Kessler-Keller. Vor allem jene Sekte, deren Grundwein nicht aus Italien kommt, sondern am Neckar wächst, interessieren uns. Riesling kann man hier in zwei prickelnden Varianten genießen. Süß und zart mineralisch zugleich zeigt sich der reinsortige „Réserve Vintage Brut“ des Jahrgangs 2016 im Duft. Der aktuelle und wertigere der beiden Riesling-Sekte erinnert mit seinen Duftnoten nach Holunderblüte und Honig anfangs an eine Auslese, diesen Süßwein-Düften steht aber auch Kumquat und eine zart mineralische Duftnote nach Feuerstein gegenüber. Spätestens am Gaumen wird klar, dass er auch der trockenere der beiden ist (sechs Gramm Restzucker stehen zu Buche).
Engmaschig von Beginn weg und mit cremiger Perlage, bringt er in der Sekunde Assoziationen an Limetten-Eis mit. Dazu gesellt sich ein Touch brauner Butter, so schmelzig ist hier die Riesling-Frucht ausgefallen. Das Finish aber fällt beim 2016er Schaumwein aus Württemberger Anbau betont frisch aus. Hier kommen dann Grüner Apfel und wieder ein wenig Agrumen, dieses Mal mehr Pink Grapefruit, durch. Es ist der klassische Aperitif-Sekt, was die Struktur und die Eignung als Lachs- und Garnelenbegleiter betrifft. Aber eben auch ein eigenständig deutscher Stil ist stets zu erkennen bei diesem reinsortigen Sekt.
Eine flüssige Geschichtslektion bringt dann der „Jägergrün“ mit, eine 20 Monate auf der Hefe gereifte Schaumwein-Abfüllung, die aus dem ehemals königlichen Weingarten Württembergs bei Maulbronn stammt. Der „Eilfinger Berg“ liefert die Trauben, die einen herrlich sortentypischen Riesling-Sekt ergeben: Verzieht sich der erste Rauch-Geruch, dann strahlt die Marille hier förmlich, die Rebsorte ist super-kenntlich und zeigt im aromatischen Bonus-Level glatt noch Karamell-Popcorn-Duft. Das mag ein Hinweis auf die 12 Gramm Dosage sein, doch am Gaumen fühlt sich nichts süß an. Im Gegenteil, betont knackig kommt das „Jägergrün“ daher.
Neben dem sortentypischen Steinobst – uns erinnert es am Gaumen vor allem an Nektarinen – findet sich auch Ananas wieder. Der Zug dieses Brut-Schaumweins ist beachtlich, die Säure straff und für Würze sorgt spätestens ab dem mittleren Gaumen ein schönes Maß an Weißem Pfeffer. Den Nachgeschmack peppt dann etwas eingelegter Ingwer auf: Der „Jägergrün“ macht uns den Japaner! Auch so kann Sekt an seinem Geburtsort schmecken.
Bezugsquelle:
Kessler Sekt, „Riesling Réserve Vintage Brut“ 2016 ist um EUR 17,- erhältlich, „Jägergrün“ ist um EUR 13,- zu haben und die Grande Réserve „Georges“ kostet EUR 38,-. Alle im Webshop der Kellerei, www.kessler-shop.de