Man kann sich jetzt schon vorstellen, welche Spitznamen die Landbevölkerung dem Neubau in Rassing gibt. Die Halle? Der Stadl? Die Kirch’n? Denn was Mike Nährer gegenüber des elterlichen Gasthauses aus dem Boden gestampft hat, ist eine vollverglaste, 9,5 Meter hohe Wirkungsstätte, die das Beste aus dem Traisental bieten will. „Wenn der Gast die Augen schließt, sollte er die Region schmecken können“, sagte der Spitzenkoch zur Eröffnung. Man soll sich auch von der 133 Seelen-Katastrale nicht täuschen lassen. Nährer stand bei den Küchen-Weltstars Marc Veyrat und Ferran Adriá am Herd – und das in ihrer besten Zeit.
Das nur zu seiner Detailliebe und dem perfekten Küchenhandwerk. Dass er seine Region liebt, sieht man an der Leidenschaft, mit der er die Produzenten der Umgebung vor den Vorhang und in seine im Wirtshaus situierte Greisslerei holt. Nährer baut sein eigenes Gemüse an – geerntet wir mit dem „Traktor“ seines fünf-jährigen Sohnes als Familienevent. Hinter dem Kräuterbeet weiden Schafe, die zum Weinprojekt des Haubenkochs führen. Denn sie halten die Weingartenbegrünung im Zaum, seit sich Mike Nährer (kl. Bild rechts) 2019 der „vergessenen Gärten“ angenommen hat.
Sie sind Relikte, die sogar die Weinbaupolitik vergessen hat. Kleinst-Weingärten, die in keinem Kataster mehr stehen und zu den gemischten Landwirtschaften gehörten. Wo sie entweder „Haustrunk“ lieferten oder ein paar Schillinge im Traubenverkauf einbrachten. Für den gegenwärtigen Traubenpreis kultivieren die meist betagten Eigentümer die paar Rebzeilen aber nicht mehr. Zumal die Stöcke nicht nur alt (ein Vorteil!) sind, sondern meist leider auch mit einem Mischbestand an Trauben bestockt wurden. „Grauen Vöslauer“ muss man heute schon in historischen Ampelographie-Werken nachschlagen. Doch das Ersetzen der natürlichen Ausfälle im klassischen Gemischten Satz-Weingarten erfolgte meist nach einem simplen Prinzip: Welche Setzlinge waren gerade im Angebot?
So erzählte es eine Weinviertler Winzerin, die der mehr als bunten DNA (Diversität vom Feinsten!) nachspürten, die ihre Oma aufgebaut hatte. Im Endeffekt basierte dieser „field blend“ neben reichlich Veltliner und Traminer auf den Sonderangeboten des örtlichen Lagerhauses. Das wollen wir den Traisentalern nicht unterstellen, doch so ähnlich kamen die Mischungen zustande, die eine genaue Zuordnung verunmöglichen. Doch die interessiert Nährer und seine önologischen Partner – Tom Dockner und Jürgen Leitamayer (Produktionsleiter im Weingut Jurtschitsch) – ohnehin nicht. Denn man reiht sich in die Reihe der minimal-invasiven Vinifikation ein. Anders gesagt: Es gibt keine Schönungen, dafür lange Maischestandzeiten und minimale Schwefelgaben, vor allem aber ein verpflichtende Spontanvergärung. „Wie sonst willst Du die Herkunft hineinbekommen?“, hat man sich die Antwort in den letzten Jahren selbst gegeben. Statt alles mit der gleichen Hefe uniform schmecken zu lassen, variiert der Geschmack der „Vergessenen Gärten“ beträchtlich.
Das geht bis zur Menge, die aufgrund des Frostes im ersten Jahr bei nur 3.000 Flaschen lag. Mittlerweile sind die sechs Gartenstücke in die Gemeinden zu einem Ertrag von 10.000 Flaschen fähig. Doch die Unterschiede hebt man auch mit einer nicht unkomplizierten Nomenklatur hervor – sie unterstreicht die Individualität der Weine. Da weder Jahrgang, noch Sorte aufs Etikett dürfen, hat sich Mike Nährer für einen je nach Jahr wechselnden Anfangsbuchstaben entschieden. Alle 2019er Füllungen trugen Beinamen mit „A“, mittlerweile hält man bei „C“ – und die Komplexität erhöht noch die Entscheidung, althochdeutsche Wörter zu nehmen und nicht „Charakter“ oder „Charme“. Dafür heißt ein Wein z. B. „Cruo“, der Wein in unserem Glas wiederum „Chamanch“.
Grüner Veltliner, Frühroter Veltliner, der besagte Graue Vöslauer, aber auch Riesling kommen in diesem Fall in die Presse, die der Koch extra angeschafft hat. Der erste „Sponti“-Duft, das zart mostige Odeur, weicht schnell einem fruchtigen Cocktail aus säurigen Orangenspalten (die gab es auch einmal als Bonbons am Kinobuffet), Passionsfrucht und Rhabarber. Letzterer steuert einen herb-wurzeligen Ton bei, der an das Rückgrat eines Campari erinnert – wenn auch mit deutlich prägnanterer Säure.
Saftig legt sich der „Chamanch“ auf die Zunge, die Säure schiebt ihn förmlich an. Wieder ist auch Passionsfrucht zu schmecken, neu ist ein Grapefruitzesten-Bündel, das für Gerbstoff, aber eben auch Frische Synonym sein kann. Beides bringt der 2021 gekelterte „Wein aus Österreich“ mit. Plötzlich tritt aber eine dritte Komponente hinzu, die ganz klar salzigen Eindruck macht. Wie eine „Paloma“ schmeckt das Finale – und es bewirkt auch Ähnliches wie dieser mexikanische Cocktail. Säure, Salz und Tannin animieren zum Nachtrinken. Mit seinen 12% vol. macht man sich dabei auch keinen Kopf. Die Trinkfreude dieses Weines überzeugt in der Halle/Kirche des innovativen Wirts. Und als der Traisentaler Saibling mit Kohlrabi aus der Küche kommt, weiß man auch, was Koch Nährer dem Winzer Nährer als „Pairing“ empfiehlt. Gelungen!
Bezugsquelle:
Mike Nährer – Vergessene Gärten, „Chamanch“ 2021 ist um EUR 16,- im Gasthaus Nährer/Rassing oder im Versand bei WeinSkandal erhältlich, https://weinskandal.at