Den Weinetiketten im Stile alter Anatomie-Schaubilder entspricht auch ein ungewöhnlicher Hompage-Text beim Newcomer-Winzer. „Anima“ und „Animus“, die psychologischen Konzepte Carl Gustav Jungs, findet man sonst eher nicht zwischen Säurewert-Angaben und Jahrgangstabellen. Aber Dr. Gerald Wunderer ist nicht nur Allgemeinmediziner im Weinviertel, sondern auch Facharzt für Psychiatrie. Und seit neuestem eben auch Herr eines Weinguts, das er mit seinem Lebensgefährten Matthias Lobner und Kellermeister Bernd Karnaus in Straning-Grafenberg führt.
Die Lage des immerhin zehn Hektar großen Betriebs Doktor Wunderer ist dabei ein spannender Teil der Produktion. Sie kreist im Wesentlichen zwar um Grünen Veltliner, die Leitsorte des Weinviertels, aber man befindet sich schon sehr nah am kühlen Manhartsberg. In Zeiten des immer schwierigen Erhalts der Säure beim Veltliner stellt das durchaus einen Vorteil dar. Das zeigt sich schon beim Einstieg in die Range des neuen Nord-Weinviertler Weinguts. Es ist der „Animus“ 2021 mit seinem lateinisch beschrifteten Torso (in der Wein-Anatomie liegt das corpus delicati offenbar überm locus gaudii). Frische dringt schon im Duft dieses Einstiegs-Veltliners durch; purer, Gelber Apfel (Golden Delicious) tritt mit einem Haucherl von Marille auf. Als Erfrischung bringt er einen Geruch nach Zitruszesten mit. Es ist ein Vorbote auf die Eindrücke am Gaumen. Da sorgen dann Kiwi und Grüner Apfel für knackig-leichten Geschmack. Die Säure liefert den Hintergrund zu diesem Charakterzug, der sich mit etwa Geduld auch um Steinobst-Noten erweitert. Ein wenig Mispel-Geschmack lässt auch erkennen, dass man mit einem eleganten Gerbstoff-Bitterl im Ausklang auch für weiteres Trinkanimo (oder -animus?) gesorgt hat. Das alles ist recht viel für einen 11,5% leichten Wein, man muss ihm aber auch zuhören wollen.
Wer eher das kräftigere Besteck sucht, in der C. G. Jung’schen Terminologie also vollends dem Prinzip Animus anhängt, wird aber ebenso gut bedient von den „Doktor-Weinen“, die nicht diesen Namen tragen. Die bisher hochwertigste Füllung der Newcomer etwa stammt von der Ried Steinperz (wo auch der Sauvignon Blanc der Haus-Cuvée Anima seine Heimat hat). Es ist ein reinsortiger Grüner Veltliner, der im Jahrgang 2021 spät ausreifte, mit einem kleinen Anteil an Botrytis-Trauben (unter 5%) aber satte Frucht mitbringt. Zumal ein Großteil des Steinperz auch saftigen Lössboden aufweist, lediglich der obere Teil hat Urgesteinsanteile. Noch geschmeidiger wird der Weißwein durch den Ausbau, für den man sich bei Doktor Wunderer entschied, nämlich ein großes Akazienholzfass.
Dieses Holz wirkt tendenziell Frucht-unterstützend und mit den vier Gramm Restzucker, die man dem 2021 „stehen hat lassen“, wird daraus ein ziemlicher Verführer von einem Veltliner. Doch der feinen Fruchtsüße am Gaumen steht recht deutlich von Beginn an auch der mineralische Geschmack des Urgesteinsanteils gegenüber. Etwas Orangen-Fruchtfleisch – eher unkonventionell für die Rebsorte – zeigt die intensive Art dieses Veltliners an. Selbst Tropenfrucht-Noten kann man ausmachen, etwa kühle Papaya und auch eine reife Marillen-Note, die im Finale auch ein Quäntchen Säure mitbringt, das dem Lagenwein-Erstling aus Stranig steht. Oder, um im medizinischen Jargon zu bleiben: Der Befund sieht schon jetzt gut aus.
Bezugsquelle:
Doktor Wunderer, der Grüne Veltliner „Animus“ 2021 kostet EUR 9,-, die Weinviertel DAC Reserve „Ried Steinperz“ 2021 ist um EUR 26,- zu haben, beide ab Hof bzw. im Webshop, https://doktorwunderer.at/shop/